M. B. Lehmann u.a. (Hrsg.): Jews and the Mediterranean

Cover
Titel
Jews and the Mediterranean.


Herausgeber
Lehmann, Matthias B.; Marglin, Jessica M.
Erschienen
Anzahl Seiten
238 S.
Preis
$ 80.00; € 79,60
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Franziska Weinmann, Historisches Seminar, Ludwig Maximilians-Universität, München

Das Deckblatt des Sammelbandes von Matthias Lehmann und Jessica M. Marglin ziert ein Shiviti aus Istanbul aus dem Jahr 1838/1839 von Moshe Ganbash, das eine Topographie Israels – umrahmt von Psalm 16:8 – aus der Blickrichtung von West nach Ost präsentiert. Das östliche Mittelmeer mit den Küstenstädten ist im Vordergrund sichtbar und ein Dampfschiff mit türkischer Flagge fährt durch die Kulisse des Bildes. Zwischen den Bergen und dem See Genezareth liegen die heiligen Städte Jerusalem, Safed, Hebron und Tiberias und in der oberen rechten Ecke taucht das Tote Meer auf.

Dieses Panorama des Shiviti ist ein geeigneter bildlicher Einstieg in den Sammelband „Jews and the Mediterranean“, mit dem die Herausgeber beabsichtigen, die Mittelmeerforschung und die Jüdischen Studien näher zusammenzubringen. In neun Beiträgen, die Themen aus der Antike bis hin zur Moderne behandeln, wird der Frage nachgegangen, welchen Beitrag die Untersuchung jüdischer Geschichte für die Mittelmeerforschung leisten kann und vice versa. Demnach kann das Mittelmeer als Analyserahmen herangezogen werden und helfen, die Erforschung jüdischer Lebenswelten in anderen Zusammenhängen zu betrachten und klare Trennungen wie Sephardim versus Ashkenasim aufzubrechen. Der Blick auf das Mittelmeer durch die Brille der jüdischen Geschichte wiederum unterstützt die Mittelmeerforschung dabei, sich von Trennlinien, wie etwa Christen versus Muslime oder Ost versus West, und imperialen sowie nationalen Rahmenstrukturen zu lösen.

Lehmann und Marglin stellen in ihrer Einleitung zunächst die historische Mittelmeerforschung und ihren jeweiligen Umgang mit jüdischer Geschichte vor. Hierbei wird klar, dass jüdische Geschichte von Pirenne, über Braudel bis hin zu Horden und Purcell als Erzählung des jüdischen Händlers und kulturellen Vermittlers porträtiert wird (wenn sie überhaupt vorkommt). Diese stereotypischen Darstellungen bzw. Leerstelle wollen Lehmann und Marglin hinterfragen und nach distinktiven Merkmalen der jüdischen Kultur im Mittelmeerraum suchen. Dafür analysieren sie zum Beispiel Shlomo Dov Goitein‘s Werk über die Kairoer Geniza „A Mediterranean Society“, in dem aber Fragen, inwieweit die Kairoer Dokumente spezifische Merkmale einer mediterranen jüdischen Kultur aufzeigen oder einen Einblick in eine islamisch geprägte Gesellschaft dieser Zeit geben, unbeantwortet bleiben. Darin sehen die Herausgeber einen Beleg für die Relevanz dieses Buchs, denn aus ihrer Sicht eignen sich die Jüdischen Studien hervorragend, um die Mediterrane Geschichte zu untersuchen – durch die Perspektive einer religiösen Minderheit.

Angelehnt an die Unterscheidung von Horden und Purcell („The Corrupting Sea“) zwischen einer „history in the Mediterranean“ und einer „history of the Mediterranean“, wonach entweder die Geschichte untersucht wird, die sich an den Küsten dieses Meeres abspielt, oder aber die Region und ihre Zusammenhänge als Ganzes, schlagen die Herausgeber eine „history with the Mediterranean“ vor, wie es auch von Seth Schwartz1 und Sharon Kinoshita2 empfohlen wird. Damit kann das Mittelmeer als Raum, der Juden, Christen und Muslime verbindet, wahrgenommen und anhand einer an sozialen Interaktionen orientierten Betrachtungsweise transregionale Netzwerke und lokale Strukturen sichtbar gemacht werden.

Die Verbindung der Forschungsbereiche betrachtet Jonathan Ray in seinem Beitrag mit einer verhalteneren Euphorie: „If we wish to focus on a Jewish Mediterranean that is fundamentally cosmopolitan, mobile, and hybrid, there is much evidence to support such a stance and much good that it can offer. But in order for us to avoid exchanging one set of overly romanticized notions for another, we need to probe a bit more deeply into the meaning and resonance of this ‚Mediterranean‘ character“ (S. 62).

Ray und weitere Autor:innen weisen auf Forschungen zur modernen jüdischen Geschichte hin, welche eine „Mediterranität“ hervorheben, die unter dem Dach des Kosmopolitismus verspricht, die Gegenüberstellung von Ost und West aufzulösen. Das mediterrane Label leistet dabei allerdings eurozentrischen und eindimensionalen Perspektiven Vorschub.3 Dieser Entwicklung tritt Ray (zusammen mit anderen Author:innen) entgegen und formuliert das Ziel, die Praktiken der Abgrenzung zu anderen religiösen Gemeinschaften sowie Hierarchien und Abhängigkeiten sichtbar zu machen, anstatt sie unter einem nostalgischen mediterranen Gewand zu verstecken. So untersucht beispielsweise Clémence Boulouque in ihrem Beitrag eine literarische Entwicklung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in welcher jüdisches Leben am Mittelmeer als nostalgisches Sinnbild für ein verlorenes Miteinander einer vergangenen Zeit dargestellt wird. Dieser und andere Beiträge zeigen auf, wie aus der Perspektive der Jüdischen Studien die Komplexität des Mittelmeerraums untersucht werden kann, ohne sich dabei an der Nostalgie eines interreligiösen Zusammenspiels festzuhalten. Zudem deuten die Beiträge darauf hin, dass die Rolle religiöser Zugehörigkeit und intra- bzw. interreligiöse Zusammenhänge stark variiert. Während einige Autor:innen eine Antwort (oder Ergänzung) auf die Einleitung von Lehmann und Marglin geben und die diskursive Ebene vertiefen, illustrieren andere Forscher:innen die Herangehensweise anhand konkreter Beispiele.

Francesca Bregoli erforscht zum Beispiel mediterrane Handelsnetzwerke, die gegen Ende des 18. Jahrhunderts säkularer werden, während für innerjüdische Netzwerke religiöse Pflichten im Sinne von Vertrauenswürdigkeit und Loyalität bestehen bleiben. Am Beispiel familiärer Kontrollstrukturen der Familie Franchetti demonstriert Bregoli, wie Familienangehörige, die in Tunis, Livorno und Smyrna ansässig waren, beaufsichtigt wurden, um das Vertrauen in das Familiengeschäft aufrechtzuerhalten. Für das Handelsnetzwerk der Familie spielte das Ansehen (und damit die Ausübung religiöser Pflichten) der jüngeren Familienmitglieder eine große Rolle, da Geschäftspartner auf Informationen über die Aufrichtigkeit der Händlerfamilie mittels Empfehlungen anderer vertrauten.

Religiöse Konsolidierung aufgrund von Diversität wird auch anhand des Beitrags von Daniel Hershenzon sichtbar, der die Organisation des Sklavenhandels im 17. Jahrhundert auf der Grundlage religiöser Zugehörigkeit auswertet. Hershenzon analysiert Verhandlungen und Abgrenzungen zwischen jüdischen, christlichen und muslimischen Sklavenhändlern und einer daraus resultierenden Festigung jüdischer Identität. Einzelne Beiträge zeigen aber auch, dass Religion nicht immer eine Rolle spielt. So untersucht Konstanze Kolbe anhand des Seifenhandels zwischen Korfu und der osmanisch-albanischen Stadt Scutari im 19. Jahrhundert, dass neben transimperialen Handelsnetzwerken auch lokale Verbindungen beständig waren, die keinen religiösen Bezugsrahmen hatten.

Die historiographischen Debatten um das Mittelmeer zu nutzen, um einen anderen Zugang zur jüdischen Geschichte zu erhalten, ist ein vielversprechender Ansatz und in Anbetracht einer verstärkten „Wiederkehr des Mittelmeerraums“4 leistet der Band einen wichtigen Beitrag. Einen kritischen Blick auf die Mittelmeerforschung im 21. Jahrhundert zu bewahren, bedeutet dabei aber auch, die etablierten geschichtswissenschaftlichen Herangehensweisen und Bedeutungszuweisungen nach ihrem Ursprung zu hinterfragen. In diesem Sinne sollte bei Braudel und anderen nicht nur die Betrachtung von jüdischer Geschichte, sondern auch der Ursprung ihrer Raumkonstruktion in Verbindung mit der Geschichte von Minderheiten im Mittelmeer thematisiert werden, um die Zusammenhänge in der modernen Konstitution dieses Raums stärker zu berücksichtigen.

Die Entstehung, Infragestellung und Wiederkehr von Raumformaten im Mittelmeer ist für die Untersuchung von jüdischer Geschichte unmittelbar relevant. Insofern ist ein Austausch zwischen diesen Forschungsbereichen gewinnbringend. Dafür liefert der Sammelband eine gute Grundlage und kann in vielerlei Hinsicht der Erforschung der modernen Konstitution dieses Raums andere Perspektiven hinzufügen und als Erweiterung zu bestehenden Ansätzen der Jüdischen Studien im Mittelmeerraum gesehen werden.5

Anmerkungen:
1 Seth Schwartz, Were the Jews a Mediterranean Society? Reciprocity and Solidarity in Ancient Judaism, Princeton 2010.
2 Sharon Kinoshita, Negotiating the Corrupting Sea. Literature in and of the Medieval Mediterranean, in: Brian A. Catlos / Sharon Kinoshita (Hrsg.), Can We Talk Mediterranean?, London 2017, S. 33–48.
3 Hochberg hinterfragt die Entwicklung einer neuen Mediterranität in Israel seit den 1990er-Jahren. Gil Hochberg, The Mediterranean Option. On the Politics of Regional Affiliation in Current Israeli Cultural Imagination, in: Journal of Levantine Studies 1 (2011), S. 41–65.
4 Manuel Borutta / Fabian Lemmes, Die Wiederkehr des Mittelmeerraums. Stand und Perspektiven der neuhistorischen Mediterranistik, in: Neue Politische Literatur 58 (2013), S. 389–419.
5 Z.B. das Port-Jews Projekt: David Cesarani / Lois Dubin, Jewish Communities in Cosmopolitan Maritime Trading Centres, 1550–1950, London 2002.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch